Brief an Emilia

Das ist ein Brief, den ich am 26. Februar 2024 an Emilia geschrieben habe. Sie wird ihn nie lesen können. Es ging ihr damals gerade wieder sehr schlecht. Ich war mir in dieser Zeit sehr unsicher, ob wir heuer Geburtstag feiern werden, ob sie es schaffen wird. Jetzt weiß ich nicht, was ich mit diesem Brief machen soll. Deswegen habe ich ihn hierher gestellt.

Liebe Emilia!

Heuer wirst du 12 Jahre alt. Wahrscheinlich. An manchen Tagen mit hoher Sicherheit. Natürlich wirst du 12, 13, 14. An immer mehr anderen Tagen weiß ich es nicht. Stirbst du diese Nacht? Morgen? Im August? War der 11. Geburtstag dein letzter? Wenn es dir wieder schlechter geht, wünsche ich dir manchmal kein langes Leben. 

Diese Gedanken bringen mich nicht weiter.

Meine liebe großartige Tochter. Ich habe dich mit 37 in die Welt geboren. Mein Wunschkind, mein gesundes, großartiges Töchterchen. Ich war so gerne mit dir zu zweit.

Doch viel zu kurz war ich Mutter einer gesunden Tochter und du gesund. Viel zu kurz konnten wir beide uns unbekümmert hier auf Erden einrichten, uns kennenlernen. Warum bist genau du so schwer krank? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Diese Gedanken in meinem Kopf – mittlerweile höre ich sie nur noch selten und leise. Auf der Suche nach einer Erklärung für deine so seltene Erkrankung, erzählte mir vor Jahren eine Ärztin, dass wohl alle Mamas von schwer kranken Kindern sich immer diese Frage stellen. Auch wenn es keine Antwort gibt. Sie fragen, ob sie es hätten verhindern können. Alle.

Wie unerträglich das ist. Doch Mamas wollen ihre Kinder beschützen. Immer, überall, vor aller Not, vor jedem Leid. Du bist schwer krank und ich kann dir nicht helfen. Ich war so sicher, dass ich dich gut durchs Leben begleiten werde, dass wir alle Hürden, alle Schwierigkeiten meistern werden. Doch hier muss ich passen. Ich erlebe es täglich mit, deinem Kampf, dein Leben mit dieser heimtückischen Krankheit, wie sie sich langsam immer mehr und mehr einnistet und dir die Lebensenergie nimmt.

Liebe Emilia, ich kann dich lieben, dich umsorgen, für dich die stärkste Mama Wiens sein, dir viele liebe, großartige Menschen an deine Seite stellen. Aber ich kann dir nicht helfen, dir das Leid nicht nehmen. Ich kann dich nicht packen, mit dir ganz schnell, ganz weit weglaufen und hoffen, dass wir die Krankheit loswerden, abhängen, sie hinter uns lassen, austricksen.

So oft werde ich bewundert. Wofür frag ich mich? „Ich könnte das nicht“, sagen anderen. Wirklich? Woher wissen sie das? Sie sind nicht in dieser Situation. Ich hoffe schon, dass sie es auch könnten. Außerdem wäre ich sehr gerne eine ganz normale 0815 Mama. Am liebsten keine Helikopter-Mum. Ich würde lieber nicht dauernd darauf achten müssen, ob du stürzt, dich verletzt hast, Hilfe brauchst, noch atmest, … Ich würde lieber sagen: „Mach was du willst und wenn du mich brauchst, gib Bescheid. Ich bin da.“ Ich würde lieber sagen: „Probiere es doch aus, dann weißt du, ob deine Idee gut war.“ Ich würde lieber sagen: „Wieso willst du das machen? Erkläre es mir, ich will dich verstehen.“ Ich würde lieber sagen: „Heute habe ich keine Lust dazu, frag doch deinen Papa.“

Jeden Tag, wenn ich arbeiten gehe, gehe ich weg von dir und hin zu mir. Hin zu einem anderen Teil von mir. Und weil ich gerne arbeite, gerne gestalte, entwickle, lerne, nachdenke, mit Menschen bin, tanze, gerne Sport mache, gerne all das andere Lebenszeugs mache, gerne auch diese Teile lebe, bin ich auch ganzer für dich. Ich bin nicht nur die pflegende Mama, die sich in dieser Rolle auflöst. 24/7 ist hier keine gute Idee. 12 Jahre lang kaum einer Nacht durchzuschlafen, werden mich nicht dazu bringen, den anderen Teil meines Lebens nicht zu leben. Nein, davon hätten wir beide nichts. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Naja, sagen wir so: Sie ist sehr antastbar und es tut weh, wenn sie verletzt wird. Deine und meine. Ich hoffe, ich habe immer beide gut im Blick.

Bei all den vielen Medikamentenumstellungen muss ich abwägen: Versuchen wir es erneut, wieder? Ich mute dir zu, ein weiteres schweres Medikament zu versuchen, mit all den Nebenwirkungen und ich mute dir zu, hin und wieder eine Pause einzulegen, das neue Medikamentenrezept an den Kühlschrank zu pinnen und zu warten. Obwohl deine Krankheit keine Pause macht. Nichts tun, bedeutet auch, dass es schlimmer wird und erneut eine Medizin ausprobieren, bedeutet oftmals auch, dass es dir schlechter geht. Also warten wir. Auf was? Auf ein Zeichen? Auf Kraft? Und dann, irgendwann muss ich das Rezept von der Kühlschranktüre lösen, mich in die Apotheke schleppen und wieder hoffen. Nein, wir dürfen nicht aufhören, ein Medikament zu suchen, das dir vielleicht helfen wird. Ja, wir dürfen aufhören, dir ein Medikament zu geben, dass dir vielleicht wieder nicht helfen wird.

Manchmal, wenn es dir wieder sehr schlecht geht, schaue dir in die Augen, streiche dir deine Haare aus dem wunderschönen Gesicht, küsse deine Wange, flüstere in dein Ohr, dass du gehen kannst, gehen sollst, wenn es dir hier keinen Spaß mehr macht. Bitte. Mach das. Unbedingt. Fühl dich frei. Ich komme zurecht.

Doch wer bin ich, dass ich beurteile, was ein gutes Leben für dich ist? Was Leben für dich ist? Was dein eigenes, einziges Leben für dich ist? Es gibt nur dieses. Dann ist dieses Leben vorbei. Für immer. Du wirst es auskosten bis zum Schluss. Du liebst das Leben so sehr. Auch wenn dich die Krankheit erschöpft. Das Leben selbst findet du schön, lustig, cool und chillig,… mit all den Tieren und roten Büchern und Autos um dich. Mit all der Liebe um dich. Und auch wenn du müder und müder wirst, schwächer und ernster. Du bist gerne. Hier. Bei mir. Du liebst mich so sehr.

Du würdest eine sehr großartige Frau werden. Auf jeden Fall feministisch. Auf jeden Fall sehr cool, auf jeden Fall dem Leben und den Menschen zugewandt. Klima-Aktivistin, KFZ-Mechanikerin, Frisörin, Musikerin, …? Ich vermisse deine Fragen ans Leben an mich, ich vermisse unsere Gespräche. Wobei du mir täglich Fragen stellst, ich versuche sie zu hören, zu fühlen und ringe nach Antworten, stammle rum, lache oder weine. Wir finden uns beide in dieser großen, großzügigen Liebe ans Leben wieder.

Was du dir wohl so denkst, wie du das Leben siehst, was du zu all dem Weltgeschehen hier sagen würdest? Mülltrennen lernen, verpackungsschonend Einkaufen, umweltbewusst leben, Recycling, Upcycling, autofrei leben – all das geht an uns vorbei. Einen grünen Fußabdruck hinterlassen wir jedenfalls nicht. Pflege erzeugt eine Menge Müll. All die Windeln, das Spritzenzeug, all das Verpackungsmaterial – ich frage mich manchmal, warum hier keinerlei Forschung betrieben wird und wir nicht schon längst biologisch abbaubares Pflegematerial haben. Immer wieder bin ich überrascht, was da an Müll zusammenkommt.

Liebe Emilia, du kannst kein einzig Wort sprechen, aber mit deinen Blicken und paar Lauten oft mehr sagen als viele andere mit Sprache. Menschen reden viel, wenn der Tag lang ist. Wenn sich eine schwere Krankheit ungefragt und einfach mitten in das Leben stellt verstummen viele. Fast etwas beschämt, als wäre es ihnen unangenehm, diese Überfoderung „Na was sagt man denn jetzt dazu“ durch Sprachloigkeit verheimlichen wollend. Sogar Sätze wie diese sind selten: „Es tut mir so leid, brauchst du etwas, ich bin sprachlos, ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber ich sage lieber, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, als irgendetwas wie: „Emilia hat sich dich ausgesucht“, „Schau auf Dich“, „Die Krankheit will euch bestimmt etwas mitteilen.“ „Es war vorbestimmt“, „Man bekommt nur die Aufgaben, die man stemmen kann.“ Mittlerweile muss ich ja schmunzeln, weil die Menschen mit ihren Ratschlägen und Weisheiten auch ihre eigene Verletztlichkeit zeigen. Von all den vielen crazy Erklärungen, Deutungen, Unterstellungen, die ich zu deiner Krankheit ertragen musste, fand ich diese am originellsten: Mir sagte einmal jemand ungefragt, dass ich wohl in meine letzten Leben ein Arschloch war und jetzt muss ich ganz viel geben, um das wieder gut zu machen. Okay, ich treffe diesen Menschen seitdem nicht mehr, aber ich muss schon sagen: Mit dieser Überzeugung eine damals sehr trauernde, verzweifelte Mama zu belästigen, … Dass man sich einer Sache so sicher sein kann und dabei ganz den Bezug zur Welt verliert? Wie auch immer. Für mich gilt: Kein Mensch sucht sich eine Krankheit aus, kein Mensch will krank sein, niemand. Du solltest gesund sein und ich wünsche dir ein anderes Leben und nein, ich würde dich nicht nochmals in diese Welt holen, wenn ich wüsste, wie schwer krank du wirst. Das kann man nicht Schönreden…nur versuchen ein möglichst schönes Leben zu kreieren. Du hast leider die volle Arschkarte gezogen und das macht die Krankheit nicht weniger tragisch, aber Arschkarten-Energie ist hier noch das Beste von all den anderen Angeboten.

Im Februar 2014 wurdest du als austherapiert aus dem Krankenhaus entlassen. “Da kann man nix mehr machen. Das wird nicht mehr gut. Lange dauert es nicht mehr.“ Ich habe dich nach Hause getragen und gehalten. Mit dir den Tod um uns näherkommen gespürt. So nahe, dass ich dich frei gab. Meine Seele war bereit. Ja. Emilia. Du darfst streben. Du stirbst. Du kannst sterben. Lassen wir los. Ich habe sogar schon anfangen nach Sterbehilfe-Ländern zu suchen, die auch bei so kleinen, wunderbaren, entzückenden, schwer kranken Kindern helfen. So unerträglich war es, dich leiden zu sehen, so bereit – dieser große stille Schmerz.

Andere Ärzte haben dich nicht aufgegeben. Du bist geblieben und meine Seele musste sich mühsam daran gewöhnen, dass du bleibst. Ich habe es lange nicht geglaubt. So, als würde ein Teil von mir dort – im Nichtleben – warten, um dich zu begrüßen, aufzufangen, nicht alleine zu lassen. Ich stand dann dort allein rum, wie ein Empfangskomitee, doch du kamst nicht. Ich war verwirrt. Dieses Gefühl kann ich gar nicht in Worte fassen.

Eine zeitlang war ich so überzeugt, so tapfer oder so leichtgläubig zu glauben, ich hätte die Angst, den Respekt vor dem Tod überwunden. Ich redete weise, fast schon sicher, dass mir der Tod nichts mehr antun könne. Nur weil man ein unheilbar krankes Kind hat, dass früher oder später, heute, morgen oder in ein paar Jahren sterben könnte, heißt das nicht, dass man sich an den Tod gewöhnen kann.

Vor allem deswegen nicht, weil du nicht tot bist. Ich werde wohl erst dann mit dem Tod zurechtkommen, wenn ich selbst sterbe oder jemand den ich sehr liebe. Es wird schmerzhaft, furchtbar, ein Verlust. Du wirst fehlen. Immer und überall.

Meine Sehnsucht nach diesem „endlich Abschiednehmen können“ ist mehr ein Ausdruck meiner Erschöpfung trotz meiner Kräfte, die überraschenderweise nie ausgehen. Oder es ist ein Schutz vor etwas, vor dem ich mich gar nicht schützen kann. Wie lächerlich, wie liebevoll, viel traurig. Manchmal ist es wie ein Trotz: „Ich will jetzt endlich so richtig trauern können“. Wenn ich mir vorstellen, dass ich dann vor dir sterbe. Könnte auch jederzeit passieren – auch Dachziegel töten Menschen. War dann all das umsonst? All die Sorge, die Trauer, das Ringen mit dem Tod, dieses immer wieder Zulassen des Lebens, immer wieder im Leben sein und wissen, dass es begrenzt ist? Nein, es war nicht umsonst, denn all das ist ein Teil von mir, der ich bis heute geworden bin. Und ich habe ein volles, tiefes und erfrischendes Leben.

Mit dir in eine Pfütze hüpfen, verstecken spielen, 100 x UNO, Schultasche aussuchen, Lehrerinnen mögen und mit dir gemeinsam blöd finden, Mathematikaufgaben machen, warum, warum, warum Fragen sammeln, keine Antworten wissen, gemeinsam googeln, Jeans kaufen, heimlich Autofahren üben, Schwammerl suchen, Flohmarkt gehen, Mutter-Kind-Turnen, über Drogen reden, Verhütung besprechen, dich verliebt sein sehen, dich trösten, mit dir streiten, dich immer lieben, dich um 4:00 in der Früh dort abholen, wo ich hinkommen soll, Lieblingsromane in der Buchhandlung suchen, mit dir Mountainbiken, ins Meer springen, Sinnfragen umkreisen, dich ins Leben lassen, deine Stärken sehen, immer. Kochen müssest du mir beibringen, Vanillekipferl backen, …

Stattdessen stelle ich Anträge für neue Hippotherapien, Rollstuhladaptierungen, Rezepte, stimme mich mit den großartigen Kinderkrankenschwestern ab, sorge dafür, dass dein Staff sich gut um dich kümmert, wir die Pflegearbeit aufteilen. Stattdessen bringe ich dich für eine Woche in das einzige Kinder-Palliativzentrum in Wien, das seit ganz kurzem eröffnet hat. Das einzige Angebot, wo es einen wachen Pflege-Nachdienst gibt. Damit ich einmal durchschlafen, durchatmen kann. Vor zwei Jahren habe ich mir eine Kinderhospizstation in Niederösterreich angeschaut. Ja, es war eine Hospiz-Station. Durch und durch. Das ist etwas anders und dort sind wir nicht. Noch nicht. Ich hoffe, du stirbst zuhause. Ich möchte bei dir sein. Schon wieder ein Gedanke, der mich nicht weiterbringt.

Wir beide bilden ein Ende. Wir hören auf. Ich wollte immer ein Teil in einem Haufen Menschen sein. Die Tochter, die Mama, die Oma, die Uroma, die Ur-uroma, die Urururoam.  Aber wir werden enden. Wir leben nur dort weiter, wo man sich an uns erinnern wird. Und ich könnte sagen, dass das viele Menschen sein werden, weil viele Menschen uns lieben. Und doch bin ich auch oft allein. Wir sind auch die Vergessenen. Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, sonst werden wir ausgelassen. Es ist so einfach, es geht so schnell, dass sich die Leben der anderen um uns herum schließen, wir nicht fehlen. Wobei das nur zur Hälfte stimmt. Die andere Hälfte hat uns mit einigen Menschen noch enger rücken lassen, noch mehr verbunden, überhaupt verbunden. So ist unser Leben.

Wir haben heute wieder mit einem neuen Medikament gestartet. Es geht dir nicht so gut. Ich mache mir Sorgen. Das Unerträgliche tragen. Wie schaffst du das? Damit sollte ich diesen Text nicht schließen. Das ist traurig. Und wir beide sind ja zuversichtlich. Zuversichtlich, was das Leben zu bieten hat, was wir erleben dürfen, neugierig, wir wollen wissen, wie es weiter geht. Es auskosten. Wenn wir schon mal hier sind. Und wenn es vorbei ist? Bis es so weit ist, meine großartige Tochter, küsse ich dich. Ich hoffe so sehr, du hast keine Schmerzen. Ich hoffe du bist frei genug, um zu bleiben und frei genug, um zu gehen. Jederzeit. Das habe ich schon gesagt. Ich weiß. Ich werde dich tragen, solange ich kann. Du bist wunderbar.

Deine Mama

<<